„Ich wollte nur noch raus!”         

Birgit Schlicke

Screenshot von zwei Schülern im Skype-Gespräch mit ihrer Interviewpartnerin
© Aller Anfang ist...?

Aller Anfang ist schwer - Ankommen in der neuen Stadt Berlin

Birgit Schlicke ist Anfang 50 und in der Nähe von Berlin aufgewachsen. Sie wurde 1988 mit ihrem Vater aus politischen Gründen inhaftiert und kam erst nach dem Mauerfall frei. Heute lebt sie in Wiesbaden und arbeitet als Unternehmensplanerin bei einem japanischen Unternehmen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Zerschlagung Nazi-Deutschlands wurden Deutschland und Berlin in vier Sektoren aufgeteilt, wobei die Harmonie und der Frieden in der Welt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nur von kurzer Dauer waren. Die Welt teilte sich schnell in den verfeindeten sowjetisch geführten kommunistischen Osten und den US-geführten kapitalistischen Westen. So wie die Welt teilte sich auch Deutschland in zwei Teile, einmal die kapitalistische Bundesrepublik auf Seiten der USA und die kommunistischen DDR auf Seiten der Sowjetunion. Durch die autokratische und repressive Politik der DDR fingen die Menschen an, in die Bundesrepublik zu fliehen und die DDR für immer zu verlassen. Das gefiel der Führung der DDR nicht und das Problem wurde irgendwann so groß, dass sich die DDR am 13.08.1961 entschieden hat, eine Mauer entlang der deutsch-deutschen Grenze zu bauen und damit das Verlassen des Landes fast unmöglich zu machen. Die Teilung Deutschlands hielt bis 1989. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Volk genug von Unterdrückung und Willkür. Es verlor die Angst vor dem DDR-Regime und begann, offene Kritik zu üben, zu demonstrierte und Ungehorsamkeit zu zeigen – bis der Druck auf die DDR so groß wurde, dass die Mauer geöffnet wurde und kurz darauf auch das DDR-Regime zerbrach. Ein Jahr später, am 03.10.1990 wurde die Trennung Deutschlands durch die Wiedervereinigung nach 40 Jahren beendet. 

Birgit eignete sich als Interviewpartnerin, da sie vor und während des Mauerfalls aus politischen Gründen im Gefängnis war. Da sie anderer Meinung als der Staat war, erlebte sie die Willkür des Regimes am eigenen Leib mit und kann deshalb am besten aus dieser Perspektive von den Veränderungen berichten, die vor und nach dem Mauerfall herrschten. 

Wir haben uns an einem späten Nachmittag gegen 18 Uhr auf Skype getroffen und miteinander telefoniert. Die Stimmung war sehr ruhig und entspannt, da sie schon Erfahrung hatte als Zeitzeugin und vorher schon Interviews gegeben hatte. So gab es nur wenige Pausen und sie hatte fast immer etwas zu erzählen, was die Situation sehr erleichtert hatte. 

Zeit vor dem Gefängnis 

Bevor sie ins Gefängnis kam, hat Birgit Schlicke mit ihrem Vater, ihrer Mutter und ihren Geschwistern in der Nähe von Berlin gewohnt. Sie hatte immer den Traum, die DDR zu verlassen, da sie viele Brieffreunde im Ausland hatte. Sie wollte ihre Brieffreunde unbedingt auch einmal besuchen und fand generell die DDR sehr schlecht und wollte mit ihrem Vater immer nur weg, was sie auch alle hat wissen lassen. Zu dem Zeitpunkt war ihr noch nicht bewusst, dass ihr dieser Gedanken noch einmal zum Verhängnis werden würden. Sie war trotz alledem immer sehr wissbegierig und wollte einen guten Abschluss haben, weswegen sie sich sehr viel Mühe in der Schule gab. 

Doch eines Tages, nachdem ihre Eltern bereits einen Ausreiseantrag gestellt hatten, der abgelehnt wurde, wurde sie zu ihrer damaligen Direktorin gerufen und gefragt, ob sie immer noch der Meinungen sei, die DDR verlassen zu wollen, was sie bejahte. Daraufhin wurde sie ohne jegliche Erklärung von der Schule geschmissen und damit wurde ihr wegen ihrem menschlichen Freiheitsdrang die Bildung verweigert.

Stasi-U-Haft und Verurteilung

Als der Präsident der DDR die BRD besuchte, entschied sich die Familie von Birgit, einen Protestbrief an eine Menschenrechtsorganisation im Westen zu schreiben, in dem sie über ihre Situation und die schlechte Behandlung der Familie informierten. Jedoch wurde der Brief von einem Spitzel in der Organisation abgefangen und an die Stasi weitergeleitet, die daraufhin ihren Vater und kurze Zeit später auch Birgit festnahm und in U-Haft steckten. 

Birgit wurde sechs Monate ohne richterliches Urteil in dem berüchtigten Stasigefängnis in U-Haft festgehalten und dort aktiv mit starkem Schlafentzug, Nahrungsentzug und psychologischen Spielen terrorisiert, gefoltert und oft ins Kreuzverhör genommen. So ließ man die ganze Nacht Scheinwerfer in ihre Zelle scheinen und gab ihr qualitativ sehr schlechtes Essen. Nach sechs Monaten dieser menschenunwürdigen Bedingungen wurde sie zu einem Richter vorgelassen und zu zweieinhalb Jahren Gefängnis wegen Beihilfe zur illegalen Informationsverbreitung in den Westen verurteilt.

Gefängnis

Nachdem Birgit verurteilt wurde, kam sie in das berüchtigte Gefängnis Hoheneck, was eigentlich dafür bekannt war, dass nur Mörderinnen und Schwerstverbrecherinnen dort inhaftiert wurden. Als sie in ihre Zelle eingewiesen wurde, fiel ihr auf, dass es keine Privatsphäre gab und man rund um die Uhr beobachtet wurde – auch auf der Toilette. So gab es in dem Gefängnis strenge militärische Vorschriften, z. B. wie man sein Bett zu machen hat. Dort wurde jeden Tag geguckt, wer die beste Zelle hatte, sprich die sauberste, oder wer die wenigsten Falten in der Bettwäsche hat. Neben den vielen Razzien und der wenigen Privatsphäre gab es auch schwerste Zwangsarbeit in Gruppen von 30–60 Frauen. Die Zeit war für sie besonders schlimm, da sie die jüngste dort war und man ab 21:00 Uhr das Licht ausmachen musste. So konnte sie nicht mehr lesen bis zum nächsten Morgen, wo wieder Zählappell war.

Ereignisse um den und am Tag des Mauerfalls

Birgit war im Gefängnis stark von der Außenwelt isoliert und so erhielt sie nur wenige Infos und wenn, nur aus der DDR-Zeitung, die meistens bereits Tage alt war. Dadurch hat sie bis zum Tag des Mauerfalls nur wenig mitbekommen. Die ersten Indizien für den Mauerfall und den Zusammenbruch des Regimes waren für sie der Rücktritt der DDR-Regierung, welcher ein Gerücht über eine Generalamnestie in dem Gefängnis auslöste, die dann auch Anfang November kurz vor den Mauerfall erklärt wurde. Die Amnestie betraf aber nur die politischen Gefangenen, die sich überhaupt nicht gefreut haben, da sie nun zurück in die DDR mussten und ihre Chance von dem Freikauf durch die BRD weg war. Am Tag vor und in der Nacht des Mauerfalls wurden sie über keine Ereignisse informiert und es hat sich im Gefängnis auch nichts verändert. Jedoch wurden sie am Morgen nach dem Mauerfall alle in einen Raum gebracht, wo ein Fernseher stand und dort die Nachrichten liefen. Auf diese Weise wurden sie informiert, dass die Mauer gefallen war und nun Reisefreiheit besteht. Sofort breitete sich Freude bei den Politischen Gefangenen aus und sie wussten, dass sie bald freikommen würden. Am 17.11.1989 ist sie dann etwa eine Woche nach dem Mauerfall freigekommen und zu ihrer Familie gegangen. 

Zeit nach Gefängnis und Mauerfall

Nachdem Birgit aus dem Gefängnis kam, blieb sie noch zwei Monate in der DDR, bevor sie mit ihrer Familie in den Westen ausgereist ist. So musste sie sich an doppelt so viel gewöhnen, wie die normalen DDR-Bürger: erst einmal vom Gefängnisalltag mit gar keiner Privatsphäre und stattdessen alltäglicher Kriminalität zurück zu einem normalen Alltag mit Privatsphäre und eigenem Entscheidungsrecht und eigener Freiheit sowie von dem alten, unfreien, autokratischen System mit Angst an das neue, freie und demokratische System mit Überschuss und Vielfalt. So sagte sie zum Beispiel, dass eine der größten Sachen, die sie überrascht haben, die Tatsache war, dass alle plötzlich ihre Meinung geändert haben und selbst wichtige Personen im System alle ihre Vergangenheit vergessen hatten und Unterstützer der Freiheit wurden. 

Außerdem hat sich langfristig die Arbeitslosigkeit, Armut sowie Hoffnungslosigkeit verbreitet, da viele DDR-Unternehmen pleitegingen und viele ihre Arbeitsplätze verloren. Nach Birgits Meinung verbesserte sich aber trotzdem die Lebensqualität in der DDR, da erstmal durch die Einführung der neuen Währung die Kaufkraft besser wurde, ebenso wie auch die Auswahl an Waren und Möglichkeit, was den monotonen Dauermangel in der DDR beendete. So sagte sie, dass sie einmal in einen Laden in West-Berlin gegangen sei und dort so viel Auswahl und Farben waren, dass es für sie zu viel wurde und sie den Laden verlassen musste. Außerdem habe sie die vielen Farben auf Plakatwänden und in Läden in West-Berlin im Gegensatz zur grauen DDR und des grauen Berlins sehr überrascht und auch überrumpelt. Aber die größte und wichtigste Veränderung war ihrer Meinung nach, dass die Angst und der Druck, der von der Stasi und vom DDR-Staat ausgeübt wurde, weg war und dass man alles sagen konnte, ohne zu fürchten, einfach festgenommen zu werden, was die Stimmung in ganz Berlin und der DDR erleichtert hat. Ebenso schätzte sie die Reisefreiheit, die entstand.

Fazit

Bei Birgit Schlicke hat sich das Ankommen in der neuen Stadt Berlin als schwierig erwiesen, da sie nach dem Mauerfall entlassen wurde und somit viele Veränderungen auf einen Schlag erlebte und das für sie zu viel war. So hat sie den Mauerfall eher genutzt, um so schnell wie möglich Deutschland zu verlassen. In der kurzen Zeit, in der sie in der „neuen“ Stadt Berlin war, fand sie die Veränderungen vom alten DDR-Berlin zum neuen, modernen, vereinigten Berlin zwar ein bisschen schwierig und überrumpelnd, aber nach einer gewissen Zeit konnte sie sich daran gewöhnen und die Veränderung lieben lernen.

Abschluss

Hiermit wollen wir noch einmal einen großen Dank an Birgit Schlicke richten, da dieser Text hier nur entstehen konnte, weil sie im Interview so viel aus ihren Leben preisgegeben hat.

Autoren: Finn & Sulaeman

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