„Aus meiner Sicht ist die Hilfe sehr vergleichbar mit jener von 2015. Es gibt Menschen, die wollen helfen, und diese Menschen helfen auch. Aber wir merken derzeit, genau wie auch schon 2015, dass die Hilfsbereitschaft nach mehreren Monaten nachlässt.“

Nicolas Beckenkamp

Nicolas Beckenkamp sitzt vor einem Bücheregal. Er trägt eine medizinische Schutzmaske und hält ein kleines Büchlein in der Hand. Er ist im Gespräch und schaut nicht in die Kamera.
© Aller Anfang ist...?

Hilfe für Geflüchtete 2015 & 2022

Nicolas Beckenkamp ist Mitte dreißig und in Rheinland-Pfalz aufgewachsen. Nicolas lebt heute in Berlin und ist Mitarbeiter der Berliner Stadtmission, eines evangelischen Vereins, der unter anderem in der Geflüchtetenhilfe tätig ist. Er ist Ehrenamtskoordinator in der Willkommenshalle am Berliner Hauptbahnhof.

Nicolas eignete sich als Gesprächspartner, da er schon 2015 in der Geflüchtetenhilfe tätig war. Er kennt die Herausforderungen in der Flüchtlingsarbeit und kann das Ankommen von Flüchtlingen in Deutschland 2015 und heute gut vergleichen. Nicolas ist Ehrenamtskoordinator und hilft auch persönlich im Zelt mit, er erhält so durch seine Arbeit direkte Einblicke in das Leben der Geflüchteten, deren Erfahrungen, Bedürfnisse und Wünsche. Außerdem weiß er, wie die Helfenden die Situation wahrnehmen. Den Kontakt zu Nicolas hat uns die Pressesprecherin der Berliner Stadtmission, Barbara Breuer, vermittelt. Sie ist die Mutter einer Schülerin aus dieser Gruppe und hat uns Nicolas empfohlen.

Da Nicolas Beckenkamp zum vereinbarten Termin erkrankt war, mussten wir das Interview leider schriftlich durchführen. Zuvor hatte uns Barbara Breuer durch das Willkommenszelt geführt. Am Eingang stehen Sicherheitsleute, die alle Besucher:innen darauf hinweisen, einen Mundschutz zu tragen. Im Zelt sollen sich die Geflüchteten geschützt fühlen und auch ein bisschen Privatsphäre bekommen. Betritt man das Zelt, gibt es auf der rechten Seite einen Info-Stand, an dem die Geflüchteten zum Beispiel Fragen über ihre Weiterreise aus Berlin in andere Städte stellen können – denn viele Geflüchtete wollen weiterfahren zu Verwandten oder Freunden in anderen Teilen Deutschlands. Auf der linken Zeltseite stehen große Tische und Bänke an denen muntere Kinder, besorgte Mütter und erschöpfte Großeltern sitzen. Sie essen etwas, laden ihre Handys an den Ladestationen auf oder schauen beunruhigt auf ihre Smartphones. Doch so munter die Kinder auch wirken, der Krieg scheint sie doch mitgenommen zu haben. Neben der Essensausgabe und der Ausgabe für Hygieneartikel wie Windeln, ist die Kinderspielecke. Dort hängen an der Zeltwand Buntstiftzeichnungen von geflüchteten Kindern. Barbara Breuer erzählt, dass viele Kinder mit den Zeichnungen das Erlebte verarbeiten. Dabei entstehen auch Bilder, auf denen Kriegshandlungen zu sehen sind. Bilder wie diese sollen möglichst nicht lange an den Wänden hängen bleiben, um anderen Kindern keine Angst zu machen. Doch tatsächlich sehen wir noch ein Bild mit einem Panzer darauf. Auf sehr vielen Zeichnungen sind ukrainische Flaggen abgebildet, vereinzelt auch zusammen mit deutschen Fahnen. Auf einigen Bildern stehen sogar Sprüche wie „Fuck Putin“ oder „Germany help us!“ Daran lässt sich erkennen, dass schon jüngere Kinder versuchen zu verstehen, was gerade passiert und sie mit den Bildern ihre Gefühle zum Ausdruck bringen.

Wir haben Nicolas zunächst gefragt, was genau seine Aufgaben im Bereich „Ankunft der Geflüchteten“ sind. Er kümmert sich größtenteils um die Koordination der Ehrenamtlichen, beginnend damit, dass er die Schichten plant und die Helfer:innen auf die verschiedenen Stationen verteilt wie beispielsweise die Kinderecke oder die Essensausgabe. Auch wirbt Nicolas neue Ehrenamtliche an, indem er sich mit Interessierten unterhält, die zum Zelt kommen. Persönlich ist er außerdem für die Versorgung mit allen möglichen Hygieneartikeln zuständig.

Danach hat Nicolas Beckenkamp uns seinen typischen Tagesablauf genauer erläutert. Als Festangestellter ist er in einer der drei Schichten – Früh-, Spät- oder Nachtschicht – eingeteilt. Er erzählte uns, dass er bei den Frühschichten den Ehrenamtlichen zunächst eine Einführung gibt, ihnen erklärt, wie es im Zelt abläuft und was ihre Aufgaben sind. Er kümmert sich während der gesamten Schicht um die Helfer:innen, beantwortet Fragen, wenn sie es nicht können, löst Konflikte und steht ihnen bei allen Problemen zur Seite. Dort, wo spontan Hilfe benötigt wird, packt er mit an und unterstützt dann zum Beispiel bei der Essenausgabe. Später sitzt er am Computer, schreibt E-Mails und telefoniert.

Als nächstes fragten wir Nicolas, ob er uns genauer schildern könnte, was passiert, wenn die Geflüchteten am Bahnhof ankommen. Durch die ausgeschilderten Wege und die Helfer:innen im Bahnhof, mit denen die Berliner Stadtmission zusammen arbeitet, finden die Geflüchteten meist schnell den Weg vom Bahnsteig in das Zelt. Dort wird ihnen Schutz vor Wetter und Belästigungen von Außenstehenden geboten. Sie können Fragen stellen und erhalten im Zelt erste Antworten. Es gibt eine medizinische und hygienische Grundversorgung sowie Essen und Getränke. Nicolas erzählte uns, dass die meisten Geflüchteten nach etwa anderthalb bis drei Stunden bereit seien, weiter zu reisen. Wenn sie noch keinen Plan haben, wohin sie wollen, fährt in regelmäßigen Abständen ein Bus zum ehemaligen Flughafen Tegel. Dort können sie einige Nächte verbringen, bis sie in Städte und Orte in Deutschland verteilt werden.
Da man noch vor ein paar Wochen hörte, dass sehr viele Berliner:innen den Geflüchteten eine Unterkunft angeboten haben, fragten wir uns, wie die Situation aktuell aussieht. „Man kann nie mit Gewissheit sagen, ob solche Angebote seriös sind, auch wenn die meisten Anbieter sicherlich nur das Beste im Sinn hatten.“, meinte Nicolas. Deshalb vermitteln die Mitarbeitenden der Berliner Stadtmission auch keine Privatunterkünfte an Geflüchtete. Stattdessen betreibt der evangelische Verein eine Unterkunft in Berlin-Friedrichshain, in der aktuell 190 Geflüchtete untergebracht sind. Allgemein bieten nicht mehr so viele Menschen wie zu Beginn des Krieges Unterkünfte an. Auch die städtischen Unterkünfte in Berlin sind inzwischen voll und die Ukrainer:innen müssen auf andere Städte verteilt werden. „Am Anfang kamen mehr als 7.000 Menschen aus der Ukraine täglich hier an. Aktuell durchlaufen unser Zelt immer noch mehr als 3.000 Menschen am Tag“, erzählt uns Nicolas.

Auf unsere Frage, wieso die Hilfsbereitschaft im Gegensatz zu 2015 noch viel größer ist, sagte Nicolas Beckenkamp, dass er persönliche darin keine sehr großen Unterschiede sähe. Es gäbe immer Menschen, die helfen wollten und dies dann auch machten. Wie auch schon im Jahr 2015 lasse die Hilfsbereitschaft immer nach einigen Monaten nach. Ein Unterschied zu 2015 läge jedoch darin, dass der Staat und die Bundesländer in der Zwischenzeit bestimmte Strukturen und Systeme aufgebaut hätten, die dabei helfen, die Flüchtlingssituation besser zu meistern.
Wir hatten zudem im Vorhinein die These aufgestellt, dass Menschen, die beispielsweise 2015 aus Syrien geflüchtet sind, anders behandelt wurden als Leute, die aktuell aus der Ukraine ankommen. Nicolas Beckenkamp konnte diese These nicht bestätigen. Er meint, dass es für ihn und viele Ehrenamtliche nicht auf die Personen oder die Herkunft ankommt, sondern auf die benötigte Hilfe. Er möchte für jeden Hilfsbedürftigen gleichermaßen da sein und das sei auch die Idee der Berliner Stadtmission, des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und der Allgemeinen Menschenrechte der Vereinten Nationen.

Als nächstes fragten wir ihn, was 2015 hätte anders laufen können. Darauf antwortete er, dass die Politik schon damals den Mehrwert der ehrenamtlichen Helfenden hätte erkennen und nutzen können. Er erwähnte, dass sich viele Helfer:innen damals schnell als Hindernis und unerwünscht fühlten. Heute erkennt man den Wert der Helfenden glücklicherweise an. Auf die Frage, was Deutschland aus 2015 gelernt hätte, antwortete Nicolas, dass ehrenamtliche Arbeit besser wahrgenommen und Helfer:innen früher miteinbezogen würden. Strukturen, die 2015 erst entwickelt wurden, können heute genutzt werden. Seiner Meinung nach hat Deutschland sehr viel aus der Situation 2015 gelernt. 2022 konnte sich Deutschland sehr schnell auf die Ankunft vieler Geflüchteter einstellen. Beweise dafür sind das 90-Tage-Visum, die ticketlosen Zugfahrten, die kostenlosen SIM-Karten für Mobiltelefone, Unterkünfte, die schon vor der Ankunft bereitstanden, sowie die viel schnellere Integration der Flüchtlinge. So sind zum Beispiel viele Kinder schon in den letzten Wochen sehr schnell in Kitas und Schulen aufgenommen worden. Das erleichtert ihnen und ihren Eltern das Ankommen sehr.

Jedoch kommt Nicolas in der nächsten Frage darauf zusprechen, dass auch Deutschland Verbesserungsbedarf hat. Seiner Meinung nach erschwert der hohe bürokratische Aufwand das Ankommen und die Integration der Menschen. Die Prozesse dauern zu lange und das behindert das Einleben. Nicolas würde sich zudem persönlich wünschen, dass Ehrenamtler: innen Aufwandsentschädigungen erhalten wie als Dankeschön einen Kino-Gutschein. Wichtig sei es auch, dass Menschen, die nur wenig Geld hätten, sich nicht selbst ein BVG-Ticket kaufen müssten, um bei der Berliner Stadtmission mitarbeiten zu können.
Weiterhin haben wir Nicolas gefragt, was 2015 und 2022 seine größten Herausforderungen waren. Für ihn sei es besonders schwierig, die täglich anfallende stressige Arbeit mit den emotionalen Geschichten der Menschen in Einklang zu bringen. Aufgefallen sei ihm dabei, wie unbedeutend doch eigentlich die Dinge seien, nach denen wir streben, verglichen mit den Schicksalen derer, die nach Deutschland fliehen und Schutz suchen. Außerdem weiß auch er nicht, wie es nach dem Schließen der Willkommenshalle für ihn persönlich weitergehen soll. Er lebt deshalb mit einer gewissen Planlosigkeit.

Ein Schicksal, dass Nicolas besonders berührt hat, war das eines alten Mannes. Als er ankam, war er sehr verwirrt und sprach kaum. Nach einer Weile merkte man, dass er so langsam realisierte, wo er war und was er tat. Er kam wie aus einem Tunnel und brach emotional zusammen. Er war mit seiner Tochter und seinen Enkeln auf der Flucht und hatte mit ansehen müssen, wie seine Familie starb. Nur er allein schaffte es bis nach Deutschland.

Doch es gab auch schöne Erfahrungen als Mitarbeiter in der Geflüchtetenhilfe: Drei junge Studenten aus Kiew, gebürtig aus Marokko, kamen mit ihrer Katze ins Zelt. Sie hatten große Angst, abgewiesen zu werden, da sie keine Ukrainer sind. Zunächst waren sie sehr froh darüber, dass niemand nach ihrem genauen Status fragte und sie einfach eingelassen wurden. Als Nicolas dann noch mit der Katze und den jungen Männern zusammen eine Runde auf dem Washingtonplatz drehte, habe er richtig gemerkt, wie beruhigt und dankbar die jungen Leute waren, erzählt er uns. Am Ende wollten wir noch erfahren, wie wir als Schüler:innen helfen können. Nicolas hatte da eine klare Antwort: „Ihr müsst mit dafür sorgen, dass Krieg kein Normalfall wird. Setzt Euch mit verschiedenen Ländern auseinander, geht raus in die Welt und seid interessiert an anderen Kulturen. […] Vernetzt Euch und tretet für ein friedliches Miteinander ein. Gemeinsam, bunt und laut!“ Außerdem könnten wir ganz konkret Spenden sammeln wie ein altes Fahrrad, Schuhe, das alte Smartphone oder auch nur Klebebänder, meint Nicolas. Eine weitere Option zu helfen, ist es, Werbung für das Zelt zu machen, um mehr Leute zum Helfen dorthin zu bewegen. Wir selbst können dort nur mit unseren Eltern gemeinsam anpacken, da das leider erst ab 18 Jahren geht.

Das Interview mit Nicolas hat uns einen guten Einblick in das Ankommen der Geflüchteten als auch den Job der Helfenden gegeben. Wir haben erfahren, wie der Alltag eines Helfenden abläuft und was passiert, nachdem die Geflüchteten am Hauptbahnhof ankommen. Außerdem haben wir die Schattenseiten und Herausforderungen, aber auch die schönen Seiten der Flüchtlingshilfe kennen gelernt. Trotz der emotionalen und traurigen Geschichten, die Nicolas jeden Tag begegnen, blickt er zuversichtlich nach vorne: „Es gibt Gott sei Dank von mir mehr schöne Geschichten zu erzählen als traurige“, meinte Nicolas. Auch ist uns klar geworden, was es für eine Entwicklung in der Flüchtlingshilfe zwischen 2015 und heute gab. Während sich Helfende 2015 eher unerwünscht fühlten, hat man ihr Potential und den Wert der Helfer-Strukturen heute erkannt. Sie werden zurzeit viel besser wahrgenommen und mit einbezogen. Zudem gibt es heute gewisse Strukturen, die 2015 noch nicht existierten und die heute bei Bedarf schnell genutzt werden können. Auch die Integration der Geflüchteten erfolgt schneller. Trotzdem merkten wir, es gibt noch viel Raum für Verbesserung, was beispielsweise den bürokratischen Aufwand betrifft, um Sozialhilfe oder eine Arbeit zu bekommen.

Unsere Forschungsfrage „2015 und 2022 – Wie kommen Geflüchtete in Deutschland an?“ können wir nun, nach dem wir die Perspektive eines Helfenden kennen gelernt haben, zu einem Teil beantworten.
Über 2015 hat Nicolas wenig Aussagen getroffen, jedoch hat er keinen Unterschied in der Behandlung der Menschen mitbekommen, wenn auch das System der Flüchtlingshilfe heute deutlich ausgeklügelter ist als damals.

Wir danken Nicolas für seine Zeit und seine Bereitschaft, seine Erfahrung mit uns zu teilen.

Autorinnen: Maruschka, Hendrikje & Zoe
Das gesamte Interview mit Nicolas Beckenkamp finden Sie hier.

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