Eine Mauer durch eine Familie
Unsere Zeitzeugin Frau González* ist aktuell 103 Jahre alt, ist im früheren Ost-Berlin aufgewachsen und wohnt auch noch immer in Berlin. Sie hat zwei Töchter und einen Sohn und ist mittlerweile bereits seit über 30 Jahren in Rente.
Frau González hat bisher viele große Meilensteine der Geschichte Deutschlands miterlebt. Somit hat sie bereits viele Erfahrungen gesammelt und viele verschiedene Staatsformen kennengelernt.
Angefangen bei der Weimarer Republik, einer parlamentarischen Demokratie, die nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland entstanden ist. Da diese jedoch sehr instabil war und zu wenig Unterstützung der Bevölkerung hatte, kam es dazu, dass die Weimarer Republik scheiterte und Adolf Hitler mit der Ideologie des Nationalsozialismus an die Macht gelangte. Mit dem von Adolf Hitler befohlenen Überfall auf Polen begann am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg. Dieser endete 1945 mit dem Niedergang des NS-Staats und der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht. Berlin wurde im Zuge dessen von den Alliierten untereinander aufgeteilt. So entstanden vier Sektoren, von denen der sowjetische Teil Ost-Berlin bildete und der amerikanische, der britische und der französische Teil West-Berlin. Da immer mehr DDR-Bürger in den Westen wollten, ließ die Regierung 1961 eine Mauer zwischen der DDR und der BRD erbauen.
Aufgrund einer Wirtschaftskrise, der Massenflucht aus der DDR in die BRD, Demonstrationen und einigen Reformen wurde die Mauer 1989 schließlich niedergerissen und Deutschland und somit auch Berlin dadurch wiedervereinigt. Da der Westen und der Osten Deutschlands jeweils eine eigene Hauptstadt, nämlich Bonn und Berlin, besaßen, musste sich nach der Wiedervereinigung auf eine der beiden als Hauptstadt für ganz Deutschland geeinigt werden und so wurde Berlin die neue Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland.
Für unser Interview haben wir uns zuhause in der Wohnung von Frau González getroffen. Die Atmosphäre war entspannt und es wurde viel und gerne erzählt, weshalb wir ein gutes Interview führen konnten.
Begonnen haben wir mit der Frage nach Frau González‘ damaligem Beruf. Sie hat keinen Beruf erlernt, war jedoch, nachdem sie ihre drei Kinder bekommen hat, ein paar Jahre als Schreibkraft in einer Kindertagesstätte tätig. Daraufhin hat sie die medizinische Fachschule besucht und im Sozialwesen beim Rat der Stadt angefangen.
Als die Mauer gebaut wurde war Frau González mit ihrem Mann und ihrer jüngsten Tochter zusammen im Urlaub an der Ostsee. Es ging kein Telefon und sie hatten keinen Fernseher, als sie an einem Sonntag ein Telegramm von ihrem Sohn aus Ost-Berlin mit den Worten „junges Paar im Urlaub“ bekamen. Das war Frau González’ andere Tochter mit ihrem Mann und Baby in West-Berlin, welches zu dem Zeitpunkt vom Osten Berlins getrennt wurde. Schließlich haben sie über die neuen Sicherheitsmaßnahmen an der Grenze in Berlin erfahren. „Da konnte man sich nichts drunter vorstellen. Heute wissen sofort alle mit ihrem Handy was los ist in der Welt.“ Dann haben sie erst so wirklich mitbekommen, was los ist. „Aber wir haben uns unseren Urlaub nicht verderben lassen, der Urlaub ging weiter, bis wir dann nach Berlin kamen und dann richtig festgestellt haben, was Sache ist. Aber, relativ locker gesehen, naiv eigentlich. Man hat sich nicht vorstellen können, was das bedeutet.“
Ängste waren auch dabei, aber es war für alle in dem Moment klar, dass ein Teil der Familie auf der anderen Seite Berlins war und „da war ein Zaun, da war noch keine Mauer, und Polizei und Kampfgruppen überall und was weiß ich“. Die Familie dachte, dass es unmöglich sei, eine ganze Stadt einzuzäunen und hat daher erst nach und nach mitbekommen, was passiert ist. Das Telefon ging in den ersten Tagen gar nicht und später musste man ein Gespräch nach West-Berlin anmelden. Die Familie hat sich dann verabredet, um sich an der Grenze zu sehen. Dort konnte man sich aber auch nur auf 100 Meter Entfernung sehen und winken. „Und das war im Prinzip auch für unsere Familie die größte Tragödie letztendlich, weil meine Tochter in West-Berlin mit dem Baby war und wir waren hier.“
Bis 1979 konnte Frau González nicht in den Westteil Berlins, sie hat also ganze 18 Jahre ihre Tochter nicht wirklich sehen können. Als Rentnerin hatte sie später mehr Möglichkeiten, denn 1964 trat ein Gesetzt in Kraft, das Frauen ab 60 und Männern ab 65 erlaubte, für vier Wochen in die BRD zu reisen. Ihre beiden Töchter waren jedoch in ihrem Leben häufiger getrennt als zusammen. Die Trennung ist die schlimmste Emotion gewesen, doch mit den Jahren haben sie sich abgefunden mit der Situation, aber immer noch jede Gelegenheit genutzt, sich mal sehen zu können. Doch immer, als die Tochter zu Besuch sein konnte, hat ein Nachbar von ihnen, der Abschnittsbevollmächtigter von Beruf war, ein Auge auf die Familie geworfen. Frau González‘ Schwiegersohn hat seiner Frau nämlich einen Personalausweis mit einer jungen Frau, die ihr sehr ähnlichsah, angefertigt, um sie nach den Besuchen an Feiertagen immer wieder zurück in den Westen zu holen. Das ist der Grund, weshalb die Tochter von Frau González auch als Republikflüchtling galt. „Man hat alles gemacht“, damit die Familie zusammenbleiben kann.
Als Frau González vom Mauerfall erfahren hat, waren ihre ersten Gefühle Fassungslosigkeit, denn sie hat weit weg von der Mauer gewohnt und vieles nicht mitbekommen. „Man konnte gar nicht fassen, dass es noch möglich ist, man hatte sich ja mit der Mauer schon abgefunden“. Es ging ihr und ihrer Familie immer gut, denn es gab genügend Arbeitsplätze, Wohnungen und zu essen, andere Städte der DDR hatten zwar teilweise auch Mangelware, aber Berlin war immer das ordentliche Schaufenster der DDR gewesen.
Natürlich war beim Mauerfall vor allem auch riesige Freude dabei, die Familie wieder vereint zu sehen. Wirkliche Erwartungen hatte unsere Zeitzeugin nicht und auch West-Berlin hat sie sich nie wirklich besser als die DDR vorgestellt. Doch sie meinte, es hätte dort immer besser gerochen und die Geschäfte und Warenhäuser hätten ein ausgefalleneres Angebot gehabt. Frau González hat sich wie im Ausland gefühlt, denn alles war für sie neu und auch schön. Doch sie hatte sich im Osten schon eingelebt und jeder hat sein eigenes Leben gelebt, die West-Berliner ihres in der BRD und die Ost-Berliner ihres in der DDR.
Die Forschungsfrage, inwiefern sich soziale und wirtschaftliche Erwartungen und Hoffnungen durch den Mauerfall im wiedervereinten Berlin erfüllt haben, lässt sich bei unserer Zeitzeugin durch das Interview gut beantworten, denn nachdem die Mauer in Berlin gefallen ist, konnte sich die gesamte Familie von Frau González wiedersehen. Durch die Wiedervereinigung der Familie ist große Freude entstanden und eine gewisse Last vom Herzen gefallen. Frau González meinte „Uns ging es immer gut.“, denn sie hatte immer genug zu essen, „zwar nicht das Ausgefallenste“, aber sie haben sich daran gewöhnt, weshalb sie keine Hoffnungen oder große Erwartungen gegenüber der Wirtschaft hatte. Sie erzählte, dass die Familie schon immer das Wichtigste war und sie nie große Sorgen über wirtschaftliche Änderungen hatte.
Wir danken Frau González für die Zeit, die sie unserem Interview gewidmet hat und für die Erfahrungen, die sie mit uns geteilt hat.
*Zum Schutz der Privatsphäre wurde ein Pseudonym verwendet.
Autorin: Marieke